sueddeutsche.de Panorama
Drucken 18.03.2004   19:55 Uhr

75 Jahre Pfadfinder in Deutschland

Eine Zuflucht vor der Kälte

Auch im Zeitalter der Vereinzelung drängt es viele junge Leute zu den Pfadfindern. Dort machen sie machen nachts Geländespiele im Wald, hocken am Lagerfeuer und vollbringen jeden Tag eine gute Tat. Drei Tage in einem Zeltlager – eine Reportage.
Von Bernd Dörries

 

Irgendjemand hatte einmal die Idee, diesem Platz hier oben den Namen Schöne Aussicht zu geben. Er liegt im Bergischen Land auf der Kuppe eines Hügels, der in der Mitte rasiert ist wie eine Glatze auf einem spitzen Schädel. Wenn man sich umschaut, sieht man nur Bäume, und die einzige klare Aussicht an diesem Freitagnachmittag ist, dass es wohl das ganze Wochenende weiterregnen wird.

Die Sonne geht gerade unter. Wäre es noch heller, könnte man gut beobachten, wie der Boden beginnt, sich aufzulösen und das Gras im Matsch versinkt. Drüben, wo es laut schmatzt, wenn sich der Fuß aus der Pampe löst, wird man heute Nacht auf der Erde schlafen. Womöglich wird es Frost geben. Ein paar Meter weiter leuchten die Fenster eines Jugendgästehauses, in dem es viele leere, warme Betten gibt. Man hätte es auch einfacher haben können. Es ist also jetzt ein guter Zeitpunkt, einmal grundsätzlich die Sinnfrage zu stellen.

„Wir sind etwas Besonderes“

Annika Billert versucht, etwas Licht in die Situation zu bringen und macht erstmal die Taschenlampe an. Man sieht jetzt die Pfadfinderkluft unter ihrem Regencape und man sieht ihr Lachen, das eigentlich nicht dem Ernst der Lage entspricht. „An der Schule denken die anderen, ich sei ein Idiot, bei dem Wetter zelten zu gehen.“ Die anderen, sagt die 13-Jährige, sitzen jetzt zu Hause und schauen „Deutschland sucht den Superstar“ oder eine dieser Shows. Sie träumen davon, berühmt zu werden – alleine.

Die Pfadfinder leben den Traum, gemeinsam die Welt etwas besser zu verlassen, als man sie vorgefunden hat, so haben sie es sich geschworen. „Wir Pfadfinder sind etwas Besonderes“, sagt Annika. Schon weil sie gemeinsam im Regen stehen. Nicht allein auf der Bühne. Man müsse das einfach einmal erlebt haben, sagt Annika.

Damals in Afrika

Um also zu erleben, wie es ist, im Winter zu zelten, haben sich 150 Pfadfinder des Diözesanverbandes Köln der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg an diesem Freitag auf den Weg gemacht.

Sie haben den Computer ausgeschaltet, die Heizung runtergedreht und irgendwo auf den Höhen des Bergischen Landes haben sie auch den Zeitgeist hinter sich gelassen. Es kommt dem ziemlich nahe, was Robert Baden-Powell sich unter dem Pfadfinder-Leben vorstellte. „Das Lager ist ein sehr erfreulicher Teil im Leben eines Pfadfinders“, meinte er.

In Gottes freier Natur leben, zwischen Hügeln, Bäumen, Tieren und Flüssen, sein eigenes kleines Zelt haben, selbst kochen und Neues entdecken – „das alles gibt Gesundheit und Glück, wie man es niemals zwischen den Backsteinen und im Rauch der Stadt findet“, schreibt Baden-Powell in seinem Handbuch Scouting for Boys von 1908, der Bibel der Pfadfinderbewegung. Allzeit bereit, jeden Tag eine gute Tat – Baden-Powell war es, der sich das alles ausgedacht hat. Der Mann war englischer Offizier und kämpfte in Afrika gegen die Buren. Er bildete damals Jugendliche zu Spähern aus, was in den Schlachten zu großen Erfolgen führte.

Einfaches Konzept: „Learning by doing”

Seine Methoden sollen sich deutlich vom üblichen Drill unterschieden haben. „Learning by doing“ war sein Konzept. Die Pfadfinderfibel verzichtete dann auf das Militärische und beschrieb eine Bruderschaft für friedliche Zwecke. Das Buch wurde damals als neues Erziehungskonzept hochgejubelt, dabei erklärt Baden-Powell eigentlich nur, wie man Feuer ohne Streichhölzer macht, Fährten liest und die Himmelsrichtung ohne Kompass erkennt. „Die Pfadfinderei ist ein vortreffliches Spiel, wenn wir unsere ganze Kraft hineinlegen und es richtig und mit echter Begeisterung anpacken.“

Das wirklich Neue an Baden-Powell war wohl, dass da ein Erwachsener die Kinder ernst nahm. Sie schienen darauf gewartet zu haben. Überall gründeten sich Pfadfinder, sie sind heute die größte Jugendbewegung der Welt. In Deutschland entstand die erste Gruppe 1911, heute gibt es drei Verbände, unter denen die katholische Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg (DPSG) der größte ist; in diesem Jahr feiert er sein 75-jähriges Jubiläum.

Insgesamt sind 200.000 junge Deutsche organisierte Pfadfinder, und es werden eher mehr als weniger. Dabei sieht und hört man nicht sonderlich viel von ihnen, was eben wohl auch daran liegt, dass sie viel Zeit im Wald verbringen und nicht im Fernsehen. Es geht jetzt auf sieben Uhr zu. Annika Billert und die anderen sieben vom Stamm Greifen aus Dormagen-Delrath nehmen die Zeltstangen in die Hand und rammen sie in den Boden, der ziemlich hart ist. Der Hammer muss her.

Erste Zigarette, erstes Bier, erste Liebe

„Denk einfach an einen Lehrer, den du nicht magst und schlag zu“, sagt einer; er meint es wohl nicht ernst. Pfadfinder zu sein, bedeutet für 13- oder 14-Jährige zuerst einmal, ohne die Eltern unterwegs zu sein, keine Hausaufgaben machen zu müssen. Und die ersten Erfahrungen: Erste Zigarette, erstes Bier, ein bisschen Liebe. Alkohol und Zigaretten sind natürlich verboten, aber man hört es manchmal kichern und glucksen im Wald und hinter den Zelten. Die Leiter schauen nicht so genau hin, so lange es nicht eskaliert.

Frauke Schulten, Annika Billert und Julian Hurtienne kennen sich schon lange. Sie kamen zu den Pfadfindern, weil ihre Eltern schon dabei waren oder ihre Freunde sie mitgenommen haben, vor sieben, acht Jahren. Seitdem sehen sie sich mindestens einmal die Woche zur Gruppenstunde. „Wir haben viel zusammen erlebt“, sagt Annika, „können uns auf den anderen verlassen und streiten uns nicht.“ Und die gute Tat? „Das macht man doch eigentlich jeden Tag, wenn man die anderen in der Schule abschreiben lässt“, sagt Annika und lacht.

Mit nassen Gesichtern

Es ist Abend geworden im Bergischen Land, und aus dem Schlamm des Platzes sind 13 Zelte gewachsen, die man Jurten nennt, traditionelle Zelte der Mongolen. Sie haben im Dach je eine kleine Öffnung, auf die kleine Zelte aufgesetzt sind. So kann man drinnen auch Feuer machen. In der Mitte des Platzes sind drei große Jurten zusammengestellt, in die alle 150 Pfadfinder hineinpassen. Nach und nach schleppen sie sich hinein mit nassen Gesichtern, lassen sich an den Bierbänken nieder, gruppieren sich um die beiden Feuer.

Man isst zusammen, trinkt heißen Tee, reibt sich die Schenkel und erzählt. Um die Feuer haben sich Kreise gebildet. Manchmal steht einer auf, weil die Fußsohlen zu heiß geworden sind, und ein anderer rückt nach. Vorne sitzen die mit den Gitarren und spielen die alten Lieder: Grönemeyer, Nena, Tausend mal berührt. Die Pfadfinder haben auch ihre eigenen Songs: „Kommt lasst uns den Anfang machen, wir probieren neue Sachen“, heißt es da, „Freundschaft die zusammenhält, so verändern wir die Welt.“

Wölflinge und Rover

Anke Akenberg, Anja Brustkern und Florian Martinitz sitzen nebeneinander auf einer Bank, sie sind 16 und 17 Jahre alt und gehören zu den Älteren im Lager. Sie sind in einer Phase, in der man nochmal überlegt, ob man dabeibleibt.

Oder ob andere Dinge wichtiger werden. Zu den Pfadfindern kommt man meist sehr früh, mit sieben oder acht Jahren. Vier Altersstufen gibt es bei der DPSG: Wölflinge, Jungpfadfinder, Pfadfinder und mit etwa 16 Jahren kommt man zu den Rovern. Jeder Übertritt in die nächste Alterstufe ist mit einem persönlichen Versprechen verbunden, manchmal gibt es auch eine kleine Zeremonie.

Mit etwa 15 Jahren entscheiden sich allerdings viele Pfadfinder, von nun an auf eigenen Wegen durchs Leben zu gehen. Florian Martinitz ist dabeigeblieben. Er habe versprochen, „mehr Verantwortung zu übernehmen“ sagt er, und das habe er bisher gehalten. Die anderen nicken: Florian sei viel selbstbewusster geworden in letzter Zeit. Florians Backen sind ganz rot geworden, weil es draußen kalt war und das Feuer einen jetzt richtig schwindlig macht mit seiner Wärme. Florian Martinitz fühlt sich bei den Pfadfindern geborgen. Hier bespricht er mit den Freunden andere Dinge als mit den Klassenkameraden in der Schule. „Hier habe ich mehr Vertrauen“, sagt er.

An der Schule stört ihn der Wettkampf um die neuesten Turnschuhe, die schicksten Klamotten. Bei den Pfadfindern tragen sie Einheitskluft, beiges Hemd und Halstuch, das macht sie alle gleich und soll die Aufmerksamkeit von den Schuhen weg, hinauf zum Menschen lenken. „Wir sind eigenständiger und selbstbewusster“, sagt Anja Brustkern. Das habe man anderen voraus, fürs ganze Leben. Einmal Pfadi, immer Pfadi. Anja nimmt Anke in den Arm. Dann wird wieder gesungen. Gegen zwölf gehen die ersten ins Bett, das einfach ein Häufchen Heu ist, auf dem eine Isomatte liegt, darauf der Schlafsack.

Zeltzusammenbruch

Der zweite Tag beginnt damit, dass um sieben Uhr ein Zelt zusammenbricht. Helfer werden gesucht, um es wieder aufzubauen. Man kann dann gleich wach bleiben, weil es um 8.45 Uhr Frühstück gibt. Es gibt Salami und Käse im Kilopack von Aldi, dazu Tee und Kakao. Es muss einfach was rein in den Magen, der Tag wird noch lang. Der Regen hat nun doch aufgehört, so dass die nun beginnenden Aktivitäten der verschiedensten Arbeitskreise sich zum größten Teil im Freien entfalten können. Das Lager trug ursprünglich den Namen „Fett frostig“, es wurde mit Schnee gerechnet hier oben und man wollte rodeln.

Nun heißt es inoffiziell „Fett matschig“, und man kann mit aufgeblasenen Autoreifen die nassen Wiesen hinunterschlittern. An einem Tag wie heute muss es erstes Ziel sein, einfach in Bewegung zu bleiben. Auf einem kleinen Hügel beginnt eine Gruppe, ein Saunazelt zu bauen. Die Teilnehmer nehmen zwei spitze Zelte, stülpen sie übereinander und machen darin ein großes Feuer. Bis zu 60 Grad soll es heiß werden. Leider lodert das Feuer dann etwas zu wild, und das Zelt brennt ab, bevor es zur Sauna werden konnte. Während der einzige Teilnehmer des Arbeitskreises Kochkurs gerade dabei ist, daumengroße Knoblauchzehen unter die Haut eines Hühnchens zu schieben, plaudern die Leiter ein wenig über die Verbandsarbeit. Es geht um Arbeitskreise, Stufentreffen, pädagogische Konzepte.

In den Siebziger- und Achtzigerjahren hat die Pädagogik bei der DPSG etwas überhand genommen. „Heutzutage geht es wieder mehr in den Wald und ins Gelände zurück, zu den Ursprüngen“, sagt Claudia Giersberg. Sie ist 29 Jahre, Diplom-Pädagogin, hat eine rot gefärbte Kurzhaarfrisur, trägt einen roten Parka und gehört zum Leitungsteam. Ihr Mann ist ebenfalls bei den Pfadfindern, der Bruder hat das Lager organisiert, die Pfadfinder sind ihre Welt.

Verlorene Werte

Und wenn jetzt jemand von draußen mal hineinschaut in diese Welt und fragt, wie es sich denn dort so lebt, wird Claudia Giersberg sehr ernst. „Man muss sich sehr früh überlegen, warum man bei den Pfadfindern ist“, sagt sie. Und man verbringt viel Zeit damit sich zu rechtfertigen, die alten Vorurteile zu widerlegen: Trick und Track, militärisch marschieren, Trompete spielen, morgens die Fahne hissen, und so weiter. Claudia Giersberg hat es, wie sie sagt, an der Schule zum ersten Mal gespürt. Die anderen strengten sich dort mächtig an, cool zu sein, färbten sich die Haare, haben getrunken, gekifft, Markenklamotten getragen. Ihr Ding war das nicht.

Bei den Pfadfindern hingegen werden Werte vermittelt, die sonst in der Gesellschaft verloren gehen: Solidarität, Freundschaft und das Selbstwertgefühl des Einzelnen. Man könne so etwas nicht verordnen, sondern müsse es erleben, sagt Claudia Giersberg. „Wer nachts allein im Wald steht, keine Angst hat und sich zurechtfindet, wird das nicht vergessen und gestärkt daraus hervorgehen.“

Es ist jetzt 22 Uhr und die Gruppe macht sich auf den Weg in den Wald zu einem Geländespiel, dem unumstrittenen Höhepunkt des Lagerlebens. Die Pfadfinder müssen sich zu einer Fackel durchschlagen, die einige hundert Meter entfernt durch die Bäume schimmert. Die Leiter verstecken sich zwischen den Bäumen und versuchen, sie daran zu hindern. Es ist erstaunlich leise, wenn sich 150 Menschen nachts im Wald verlieren. Die Gruppe hat sich aufgelöst, man ist für ein paar Momente ganz alleine auf der Welt, es ist ziemlich dunkel. Abends kreisen sie wieder um das Feuer.

Andi, der Junge mit den dunklen Augen und der blauen Gitarre sitzt wie immer ganz vorne und singt, was es für die Mädchen etwas schwierig macht, ihn anzusprechen. „Weißt du, wie ich heiße?“, fragt eine. Andi schaut ins Feuer und antwortet: „L, La, vielleicht Lara?“ Annika und Frauke lauschen den älteren Jungen. Die Leiter schmuggeln Bierflaschen ins Zelt, wo man eigentlich nicht trinken darf, und so wird es dann doch vier Uhr, bis das letzte Lied gesungen ist.

Der dritte Tag beginnt mit starkem Regen. Der Gottesdienst zum Abschied wird deshalb ins Zelt verlegt. „Lieber Herr, schenke uns Wärme, besonders, wenn es kalt wird im Leben“, sagt der Pfarrer. Danach werden die Zelte abgebaut. Man beeilt sich nicht übermäßig, es ist eh schon alles nass, an manchen Ecken des Lagers stehen Pfadfinder etwas verloren im Regen und schauen stur in eine Pfütze. Alle sind ein wenig erschöpft – sie sind am Ziel. Eltern fahren mit dem Auto vor und schauen besorgt in den Schlamm. „Und jetzt zu Hause ein warmes Bad“, sagt Julian.

(SZ vom 19.03.2004)



Artikel druckenArtikel drucken
Artikel empfehlenArtikel empfehlen
Kontakt zur RedaktionKontakt zur Redaktion
drucken   
Fenster schließen Fenster schließen