Irgendjemand
hatte einmal die Idee, diesem Platz hier oben den Namen Schöne Aussicht
zu geben. Er liegt im Bergischen Land auf der Kuppe eines Hügels, der
in der Mitte rasiert ist wie eine Glatze auf einem spitzen Schädel.
Wenn man sich umschaut, sieht man nur Bäume, und die einzige klare
Aussicht an diesem Freitagnachmittag ist, dass es wohl das ganze
Wochenende weiterregnen wird.
Die Sonne geht gerade unter. Wäre
es noch heller, könnte man gut beobachten, wie der Boden beginnt, sich
aufzulösen und das Gras im Matsch versinkt. Drüben, wo es laut
schmatzt, wenn sich der Fuß aus der Pampe löst, wird man heute Nacht
auf der Erde schlafen. Womöglich wird es Frost geben. Ein paar Meter
weiter leuchten die Fenster eines Jugendgästehauses, in dem es viele
leere, warme Betten gibt. Man hätte es auch einfacher haben können. Es
ist also jetzt ein guter Zeitpunkt, einmal grundsätzlich die Sinnfrage
zu stellen.
„Wir sind etwas Besonderes“ Annika
Billert versucht, etwas Licht in die Situation zu bringen und macht
erstmal die Taschenlampe an. Man sieht jetzt die Pfadfinderkluft unter
ihrem Regencape und man sieht ihr Lachen, das eigentlich nicht dem
Ernst der Lage entspricht. „An der Schule denken die anderen, ich sei
ein Idiot, bei dem Wetter zelten zu gehen.“ Die anderen, sagt die
13-Jährige, sitzen jetzt zu Hause und schauen „Deutschland sucht den
Superstar“ oder eine dieser Shows. Sie träumen davon, berühmt zu werden
– alleine.
Die Pfadfinder leben den Traum, gemeinsam die Welt
etwas besser zu verlassen, als man sie vorgefunden hat, so haben sie es
sich geschworen. „Wir Pfadfinder sind etwas Besonderes“, sagt Annika.
Schon weil sie gemeinsam im Regen stehen. Nicht allein auf der Bühne.
Man müsse das einfach einmal erlebt haben, sagt Annika.
Damals in Afrika Um
also zu erleben, wie es ist, im Winter zu zelten, haben sich 150
Pfadfinder des Diözesanverbandes Köln der Deutschen Pfadfinderschaft
Sankt Georg an diesem Freitag auf den Weg gemacht.
Sie haben den
Computer ausgeschaltet, die Heizung runtergedreht und irgendwo auf den
Höhen des Bergischen Landes haben sie auch den Zeitgeist hinter sich
gelassen. Es kommt dem ziemlich nahe, was Robert Baden-Powell sich
unter dem Pfadfinder-Leben vorstellte. „Das Lager ist ein sehr
erfreulicher Teil im Leben eines Pfadfinders“, meinte er.
In
Gottes freier Natur leben, zwischen Hügeln, Bäumen, Tieren und Flüssen,
sein eigenes kleines Zelt haben, selbst kochen und Neues entdecken –
„das alles gibt Gesundheit und Glück, wie man es niemals zwischen den
Backsteinen und im Rauch der Stadt findet“, schreibt Baden-Powell in
seinem Handbuch Scouting for Boys von 1908, der Bibel der
Pfadfinderbewegung. Allzeit bereit, jeden Tag eine gute Tat –
Baden-Powell war es, der sich das alles ausgedacht hat. Der Mann war
englischer Offizier und kämpfte in Afrika gegen die Buren. Er bildete
damals Jugendliche zu Spähern aus, was in den Schlachten zu großen
Erfolgen führte.
Einfaches Konzept: „Learning by doing” Seine
Methoden sollen sich deutlich vom üblichen Drill unterschieden haben.
„Learning by doing“ war sein Konzept. Die Pfadfinderfibel verzichtete
dann auf das Militärische und beschrieb eine Bruderschaft für
friedliche Zwecke. Das Buch wurde damals als neues Erziehungskonzept
hochgejubelt, dabei erklärt Baden-Powell eigentlich nur, wie man Feuer
ohne Streichhölzer macht, Fährten liest und die Himmelsrichtung ohne
Kompass erkennt. „Die Pfadfinderei ist ein vortreffliches Spiel, wenn
wir unsere ganze Kraft hineinlegen und es richtig und mit echter
Begeisterung anpacken.“
Das wirklich Neue an Baden-Powell war
wohl, dass da ein Erwachsener die Kinder ernst nahm. Sie schienen
darauf gewartet zu haben. Überall gründeten sich Pfadfinder, sie sind
heute die größte Jugendbewegung der Welt. In Deutschland entstand die
erste Gruppe 1911, heute gibt es drei Verbände, unter denen die
katholische Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg (DPSG) der größte
ist; in diesem Jahr feiert er sein 75-jähriges Jubiläum.
Insgesamt
sind 200.000 junge Deutsche organisierte Pfadfinder, und es werden eher
mehr als weniger. Dabei sieht und hört man nicht sonderlich viel von
ihnen, was eben wohl auch daran liegt, dass sie viel Zeit im Wald
verbringen und nicht im Fernsehen. Es geht jetzt auf sieben Uhr zu.
Annika Billert und die anderen sieben vom Stamm Greifen aus
Dormagen-Delrath nehmen die Zeltstangen in die Hand und rammen sie in
den Boden, der ziemlich hart ist. Der Hammer muss her.
Erste Zigarette, erstes Bier, erste Liebe „Denk
einfach an einen Lehrer, den du nicht magst und schlag zu“, sagt einer;
er meint es wohl nicht ernst. Pfadfinder zu sein, bedeutet für 13- oder
14-Jährige zuerst einmal, ohne die Eltern unterwegs zu sein, keine
Hausaufgaben machen zu müssen. Und die ersten Erfahrungen: Erste
Zigarette, erstes Bier, ein bisschen Liebe. Alkohol und Zigaretten sind
natürlich verboten, aber man hört es manchmal kichern und glucksen im
Wald und hinter den Zelten. Die Leiter schauen nicht so genau hin, so
lange es nicht eskaliert.
Frauke Schulten, Annika Billert und
Julian Hurtienne kennen sich schon lange. Sie kamen zu den Pfadfindern,
weil ihre Eltern schon dabei waren oder ihre Freunde sie mitgenommen
haben, vor sieben, acht Jahren. Seitdem sehen sie sich mindestens
einmal die Woche zur Gruppenstunde. „Wir haben viel zusammen erlebt“,
sagt Annika, „können uns auf den anderen verlassen und streiten uns
nicht.“ Und die gute Tat? „Das macht man doch eigentlich jeden Tag,
wenn man die anderen in der Schule abschreiben lässt“, sagt Annika und
lacht.
Mit nassen Gesichtern Es
ist Abend geworden im Bergischen Land, und aus dem Schlamm des Platzes
sind 13 Zelte gewachsen, die man Jurten nennt, traditionelle Zelte der
Mongolen. Sie haben im Dach je eine kleine Öffnung, auf die kleine
Zelte aufgesetzt sind. So kann man drinnen auch Feuer machen. In der
Mitte des Platzes sind drei große Jurten zusammengestellt, in die alle
150 Pfadfinder hineinpassen. Nach und nach schleppen sie sich hinein
mit nassen Gesichtern, lassen sich an den Bierbänken nieder, gruppieren
sich um die beiden Feuer.
Man isst zusammen, trinkt heißen Tee,
reibt sich die Schenkel und erzählt. Um die Feuer haben sich Kreise
gebildet. Manchmal steht einer auf, weil die Fußsohlen zu heiß geworden
sind, und ein anderer rückt nach. Vorne sitzen die mit den Gitarren und
spielen die alten Lieder: Grönemeyer, Nena, Tausend mal berührt. Die
Pfadfinder haben auch ihre eigenen Songs: „Kommt lasst uns den Anfang
machen, wir probieren neue Sachen“, heißt es da, „Freundschaft die
zusammenhält, so verändern wir die Welt.“
Wölflinge und Rover Anke
Akenberg, Anja Brustkern und Florian Martinitz sitzen nebeneinander auf
einer Bank, sie sind 16 und 17 Jahre alt und gehören zu den Älteren im
Lager. Sie sind in einer Phase, in der man nochmal überlegt, ob man
dabeibleibt.
Oder ob andere Dinge wichtiger werden. Zu den
Pfadfindern kommt man meist sehr früh, mit sieben oder acht Jahren.
Vier Altersstufen gibt es bei der DPSG: Wölflinge, Jungpfadfinder,
Pfadfinder und mit etwa 16 Jahren kommt man zu den Rovern. Jeder
Übertritt in die nächste Alterstufe ist mit einem persönlichen
Versprechen verbunden, manchmal gibt es auch eine kleine Zeremonie.
Mit
etwa 15 Jahren entscheiden sich allerdings viele Pfadfinder, von nun an
auf eigenen Wegen durchs Leben zu gehen. Florian Martinitz ist
dabeigeblieben. Er habe versprochen, „mehr Verantwortung zu übernehmen“
sagt er, und das habe er bisher gehalten. Die anderen nicken: Florian
sei viel selbstbewusster geworden in letzter Zeit. Florians Backen sind
ganz rot geworden, weil es draußen kalt war und das Feuer einen jetzt
richtig schwindlig macht mit seiner Wärme. Florian Martinitz fühlt sich
bei den Pfadfindern geborgen. Hier bespricht er mit den Freunden andere
Dinge als mit den Klassenkameraden in der Schule. „Hier habe ich mehr
Vertrauen“, sagt er.
An der Schule stört ihn der Wettkampf um
die neuesten Turnschuhe, die schicksten Klamotten. Bei den Pfadfindern
tragen sie Einheitskluft, beiges Hemd und Halstuch, das macht sie alle
gleich und soll die Aufmerksamkeit von den Schuhen weg, hinauf zum
Menschen lenken. „Wir sind eigenständiger und selbstbewusster“, sagt
Anja Brustkern. Das habe man anderen voraus, fürs ganze Leben. Einmal
Pfadi, immer Pfadi. Anja nimmt Anke in den Arm. Dann wird wieder
gesungen. Gegen zwölf gehen die ersten ins Bett, das einfach ein
Häufchen Heu ist, auf dem eine Isomatte liegt, darauf der Schlafsack.
Zeltzusammenbruch Der
zweite Tag beginnt damit, dass um sieben Uhr ein Zelt zusammenbricht.
Helfer werden gesucht, um es wieder aufzubauen. Man kann dann gleich
wach bleiben, weil es um 8.45 Uhr Frühstück gibt. Es gibt Salami und
Käse im Kilopack von Aldi, dazu Tee und Kakao. Es muss einfach was rein
in den Magen, der Tag wird noch lang. Der Regen hat nun doch aufgehört,
so dass die nun beginnenden Aktivitäten der verschiedensten
Arbeitskreise sich zum größten Teil im Freien entfalten können. Das
Lager trug ursprünglich den Namen „Fett frostig“, es wurde mit Schnee
gerechnet hier oben und man wollte rodeln.
Nun heißt es
inoffiziell „Fett matschig“, und man kann mit aufgeblasenen Autoreifen
die nassen Wiesen hinunterschlittern. An einem Tag wie heute muss es
erstes Ziel sein, einfach in Bewegung zu bleiben. Auf einem kleinen
Hügel beginnt eine Gruppe, ein Saunazelt zu bauen. Die Teilnehmer
nehmen zwei spitze Zelte, stülpen sie übereinander und machen darin ein
großes Feuer. Bis zu 60 Grad soll es heiß werden. Leider lodert das
Feuer dann etwas zu wild, und das Zelt brennt ab, bevor es zur Sauna
werden konnte. Während der einzige Teilnehmer des Arbeitskreises
Kochkurs gerade dabei ist, daumengroße Knoblauchzehen unter die Haut
eines Hühnchens zu schieben, plaudern die Leiter ein wenig über die
Verbandsarbeit. Es geht um Arbeitskreise, Stufentreffen, pädagogische
Konzepte.
In den Siebziger- und Achtzigerjahren hat die
Pädagogik bei der DPSG etwas überhand genommen. „Heutzutage geht es
wieder mehr in den Wald und ins Gelände zurück, zu den Ursprüngen“,
sagt Claudia Giersberg. Sie ist 29 Jahre, Diplom-Pädagogin, hat eine
rot gefärbte Kurzhaarfrisur, trägt einen roten Parka und gehört zum
Leitungsteam. Ihr Mann ist ebenfalls bei den Pfadfindern, der Bruder
hat das Lager organisiert, die Pfadfinder sind ihre Welt.
Verlorene Werte Und
wenn jetzt jemand von draußen mal hineinschaut in diese Welt und fragt,
wie es sich denn dort so lebt, wird Claudia Giersberg sehr ernst. „Man
muss sich sehr früh überlegen, warum man bei den Pfadfindern ist“, sagt
sie. Und man verbringt viel Zeit damit sich zu rechtfertigen, die alten
Vorurteile zu widerlegen: Trick und Track, militärisch marschieren,
Trompete spielen, morgens die Fahne hissen, und so weiter. Claudia
Giersberg hat es, wie sie sagt, an der Schule zum ersten Mal gespürt.
Die anderen strengten sich dort mächtig an, cool zu sein, färbten sich
die Haare, haben getrunken, gekifft, Markenklamotten getragen. Ihr Ding
war das nicht.
Bei den Pfadfindern hingegen werden Werte
vermittelt, die sonst in der Gesellschaft verloren gehen: Solidarität,
Freundschaft und das Selbstwertgefühl des Einzelnen. Man könne so etwas
nicht verordnen, sondern müsse es erleben, sagt Claudia Giersberg. „Wer
nachts allein im Wald steht, keine Angst hat und sich zurechtfindet,
wird das nicht vergessen und gestärkt daraus hervorgehen.“
Es
ist jetzt 22 Uhr und die Gruppe macht sich auf den Weg in den Wald zu
einem Geländespiel, dem unumstrittenen Höhepunkt des Lagerlebens. Die
Pfadfinder müssen sich zu einer Fackel durchschlagen, die einige
hundert Meter entfernt durch die Bäume schimmert. Die Leiter verstecken
sich zwischen den Bäumen und versuchen, sie daran zu hindern. Es ist
erstaunlich leise, wenn sich 150 Menschen nachts im Wald verlieren. Die
Gruppe hat sich aufgelöst, man ist für ein paar Momente ganz alleine
auf der Welt, es ist ziemlich dunkel. Abends kreisen sie wieder um das
Feuer.
Andi, der Junge mit den dunklen Augen und der blauen
Gitarre sitzt wie immer ganz vorne und singt, was es für die Mädchen
etwas schwierig macht, ihn anzusprechen. „Weißt du, wie ich heiße?“,
fragt eine. Andi schaut ins Feuer und antwortet: „L, La, vielleicht
Lara?“ Annika und Frauke lauschen den älteren Jungen. Die Leiter
schmuggeln Bierflaschen ins Zelt, wo man eigentlich nicht trinken darf,
und so wird es dann doch vier Uhr, bis das letzte Lied gesungen ist.
Der
dritte Tag beginnt mit starkem Regen. Der Gottesdienst zum Abschied
wird deshalb ins Zelt verlegt. „Lieber Herr, schenke uns Wärme,
besonders, wenn es kalt wird im Leben“, sagt der Pfarrer. Danach werden
die Zelte abgebaut. Man beeilt sich nicht übermäßig, es ist eh schon
alles nass, an manchen Ecken des Lagers stehen Pfadfinder etwas
verloren im Regen und schauen stur in eine Pfütze. Alle sind ein wenig
erschöpft – sie sind am Ziel. Eltern fahren mit dem Auto vor und
schauen besorgt in den Schlamm. „Und jetzt zu Hause ein warmes Bad“,
sagt Julian.
(SZ vom 19.03.2004)
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